Minimalismus: Warum nix haben was für reiche Leute ist

Couch

Minimalismus ist der neue heiße Scheiß. Überall muss ausgemistet, alles verschlankt werden. Denn nur wer wenig besitzt, führt ein Leben frei von Ballast. Ich bin mit drei Reisetaschen nach Berlin gezogen, habe ein Jahr lang nur mit dem „Nötigsten“ gewohnt habe und glaube, dass Minimalismus nicht für alle ist.

Ich bin vor etwa zwei Jahren mit drei Reisetaschen nach Berlin in eine (von den Vormietern) möblierte Wohnung gezogen. Das war weniger auf meine minimalistische Lebensweise als zum einen auf die billigen Tarife von Flixbus (25 € von Wien nach Berlin kamen meinem schmalen Umzugsbudget sehr entgegen) zurückzuführen und zum anderen auf die Tatsache, dass ich niemanden in Berlin kannte und selbst alles in die neue Wohnung bringen musste.

Angekommen in meiner neuen Wohnung (danke, netter Taxifahrer am ZOB, der mir die Reisetaschen in und aus dem Taxi gewuchtet hat) waren die drei Taschen rasch ausgeräumt und ich stand da in meinem neuen Heim: Zusammengewürfelte Möbel verschiedenster Stilrichtungen gaben meinem neuen Zuhause etwa das persönliche Flair einer günstigen AirBnB-Wohnung in Klagenfurt.

Ich sollte aber ein Jahr lang in der Wohnung leben, ohne großartig was daran zu ändern.

Dem Minimalismus-Trend folgend sollte das wohl die Stelle sein, wo das Happy End einsetzt und ich erkläre, wie frei und unbeschwert mich mein spärlicher Besitz gemacht hat. Mein Herz hing nicht an meiner Wohnung, es war frei, die Welt zu lieben! Die Wahrheit ist aber, dass ich in einer kargen Wohnung lebte, die mir keine Freude machte. Unbewusst wollte ich mich wohl auch nicht binden an eine Stadt, die einen mit der Wärme eines Wintersturms empfängt und Heimat der Band „Isolation Berlin“ ist.

Ich wusste z.B. nicht, wie glücklich mich meine Tassensammlung in Wien gemacht hat, bis ich sie nicht mehr hatte. Es war mir auch nicht bewusst, wie sehr ich meine Schränke mochte, die ich im Ausverkauf mit meiner besten Freundin gekauft hatte.

Mir wurde klar, dass ich an Sachen hing. Besitz bedeutete mir etwas. War ich etwa einer jener Menschen geworden, für die nur noch „Dinge“ zählten? War ich ein kapitalistisches Arschloch, das nur dann ist, wenn er auch besitzt? Nein. Mein Herz hing an meinen Sachen, weil ich lange nicht den Luxus hatte, „einfach nur zu kaufen“.

Mein Elternhaus ist nicht arm, aber es gab auch kein finanzielles Polster, auf dem ich mich hätte ausruhen können. Geldmangel hat seitdem ich ausgezogen bin, nahezu jede meiner Kaufentscheidungen beeinflusst. Jede größere Anschaffung habe ich gezielt und wohlüberlegt getroffen. Diese Dinge mögen zwar für alle Außenstehenden in meiner Wohnung wild durcheinander gewürfelt gewirkt haben. Aber für mich war jedes Stück wertvoll, weil ich über nahezu jeden Kauf viel nachgedacht hatte.

Heute müsste ich mir keine allzu großen Gedanken machen, welche Tassen ich nun kaufen will. Ich habe einen guten Job, der mir ein angemessenes Gehalt bringt.

In Blogs und Zeitschriften aber nun zu lesen, dass man so wenig wie möglich besitzen sollte, weil man nur dann wirklich erfüllt leben kann, trifft einen wunden Punkt und macht mich wütend. Anfangs verstand ich diese Wut nicht ganz, mittlerweile kenne ich den Grund aber: Es ist eine privilegierte Sichtweise, die in Minimalismus-Handbüchern dargestellt wird. Und sie hängt mir zum Hals raus.

Warum gerade wenig besitzen ein Zeichen von Privilegiertheit ist? Denkt mal an eine Hartz IV Wohnung. Was für ein Bild kommt euch da vor Augen? Clean und wenig Dinge? Wohl eher nicht. Vielleicht es eine vollgestellte Wohnung, mit allerlei Krimskrams. Da lachen ein paar sogar verächtlich drüber, richtig Gewiefte murmeln was von „Die kaufen so viel Zeug von unseren Steuergeldern!“ in ihren Bart.

Wenn man die Erfahrung macht, dass man nicht alles, was man will (vielleicht sogar braucht), auch bekommt, dann prägt einen das. Man „mistet nicht aus“, wenn man nicht weiß, ob man das Geld haben wird, diese Dinge nachzukaufen.

Kommt dann übrigens noch ein „Migrationshintergrund“ dazu, ist Wegwerfen eine Kardinalsünde. Das Aufbewahren von Dingen ist dann keine Prägung mehr, es ist Teil deines tiefsten Innersten. Als Teil der zweiten Generation, die nicht selbst ausgewandert bzw. geflüchtet ist, kenne ich das von meinen Eltern, die heute noch ungern Dinge wegwerfen. Denn neben der Angst, Sachen nicht noch einmal kaufen zu können, ist bei ihnen auch das Bewusstsein, dass Besitz schneller unwiederbringlich weg sein kann, als dir lieb ist. Nur, dass der Grund dann Krieg ist und nicht der neue Lifestyle-Beitrag in der Cosmopolitan.

Meine Wohnung ist jetzt übrigens heimeliger. Es hat angefangen, als ich meine übernommene Couch gegen eine andere gebrauchte getauscht habe. Die Vorbesitzerin meiner jetzigen Couch hat erzählt, dass ihr Großvater diese Couch selbst für ihre Großmutter als Hochzeitsgeschenk gebaut hat. Sie wollte die Couch deshalb nicht ausmisten.

Auf den Erinnerungen anderer sitzend hab ich quasi angefangen, meine eigenen auch in meiner Wohnung zu zeigen. Mit der neuen alten Couch war dann endlich auch ein sichtbarer Anker gesetzt in Berlin. Meine angewachsene Büchersammlung tat ihr übriges und mittlerweile sitze ich in einer recht gemütlichen Wohnung.

Ich will nicht die kapitalistische Spielverderberin sein, die euch einredet, dass ihr ja nichts wegwerfen dürft. Eigentlich will ich nur sagen, dass man sich bewusst sein sollte, das Nichtbesitz heute eine Art der Abgrenzung ist, die den Unterschied zwischen privilegierten und weniger privilegierten Menschen aufzeigen kann. Denn nichts zu besitzen, das muss man sich erst mal leisten können.

18 Kommentare zu „Minimalismus: Warum nix haben was für reiche Leute ist

  1. Anekdotisch: die Minimalisten, die ich vor knapp 10 Jahren mal kennenlernte, waren Design- und Industriedesignstudenten, leicht Zen inspieriert, hatten tatsächlich WG-Zimmer mit kaum mehr als einem Futon und ein Regal aus Glasplatten und Ziegelsteinen…. und Eltern, von deren Dachboden oder Scheune dann bei Bedarf doch mal benötigte Gegenstände, Klamotten und was sonst auch immer beschafft werden konnte

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    1. Ich musste gerade sehr laut lachen, als ich „Zen inspirierte Design- und Industriedesign-Studenten mit Regal aus Glasplatten und Ziegelsteinen“ vor Augen hatte. Du beschreibst das sehr gut!

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  2. gefällt mir der artikel – ich kenne auch beide Seiten aus meinem eigenen Leben – fast gar kein Geld haben und einigermaßen Geld haben. lebe so ein mittelding – nicht zumüllen aber auch gerne ausmisten. das ist nicht minimalistisch, ich habe gerne Sachen, die ich mag um mich. Siehe deine Tassensammlung. und der trendige minimalismus heißt: klare strukturen mit sündhaft teuren dingen. kann ich mir immer noch nicht leisten.

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  3. Schade, das Minimalismus in den Medien immer so auf das Ausmisten und Wegwerfen reduziert wird, das vermittelt irgendwie ein falsches Bild. Ich hab zum Beispiel gar nich alles weggeworfen, lebe nich in einem Tiny House, aber ich kauf halt nix, was ich nicht brauche. Das ist meine Version von Minimalismus. Und wenn man länger drüber nachdenkt, braucht man erstaunlich wenig Zeug.

    Für mich hat das ganze mehr mit Nachhaltigkeit zu tun, als mit „Leben wie im Lifestyle-Interior-Blog“. Und wenn ich mir den ganzen Verpackungsmüll anschaue, das saublöde Burn-out Gelaber mit der Überforderung, die vollgestopften Straßen, wo Leute in ihren kleinen Autos fiese Gesichter ziehen, dieses Blabla vom Wachstum, dieses Immer-Schneller-immer-mehr – dann denke ich: ein bisschen weniger könnt uns gesamtgesellschaftlich echt mal gut tun.

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    1. Hallo Frau DingDong (ich musste gerade ernsthaft kichern als ich das geschrieben habe, schon mal vielen Dank dafür 🙂 ),
      ich verstehe, was du meinst und gebe dir recht. Konsum allein macht nicht glücklich und er sollte auch nicht der Motivator hinter unserem Handeln sein. In meinem Artikel wollte ich aber wirklich dezidiert die Klischee-Schiene des Minimalismus à la Marie Kondō beschrieben. Weil sie mir persönlich immer wieder unterkommt, in „Lifestyle-Interior-Blogs“, Zeitschriften, Werbung. Mir ging es darum, dass man sich das Ausmisten und Leben ohne Ballast erst mal leisten muss. Deinen Hinweis bzw. deine Denkrichtung finde ich aber wahnsinnig spannend und wichtig.

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  4. Ist doch wunderbar das dir in dieser Zeit bewusst geworden ist was Dir WIRKLICH fehlt und woran du hängst!!! Darum geht es doch auch. Ein Freund von mir ist aus Syrien hier zu Fuß hergelaufen und scherzt, das er ein viel größerer Minimalist ist wie wir. Allerdings aus Zwang und das ist ganz schrecklich. Armut ist nie gut! In einer muffigen Wohnung, mit Möbeln die mir nicht gefallen würde ich mich auch nicht wohlfühlen.

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  5. Liebe Anna, ich finde deinen kritischen Blick auf das Thema Minimalismus herrlich erfrischend und anders. Ja, da ist etwas dran. Minimalismus ist zurzeit ein Trend, der durch Influencer beworben wird. Ich persönlich habe durch eine minimalistische Einstellung im Kopf meinen Konsum überdacht. Minimalismus beginnt für mich eben dort: Im Denken. Ohne exquisite Designermöbel, minimaoistischen Designerschmuck oder fancy „How To“-Ratgeber.

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  6. Ich kann der Grundaussage des Artikels nur zustimmen. Es klingt paradox aber man muss es sich leisten können, Dinge zu entsorgen, zu verschenken oder unter Preis weiter zu verkaufen, Bio-Produkte zu mampfen, so wenig wie möglich zu arbeiten und stattdessen auf Reisen zu gehen. Wenn man genug Geld hat um sich jederzeit alles kaufen zu können was man braucht, dann kann die Wohnung auch aussehen wie ein leerer Möbelkatalog. Dann braucht man keine Kaffeemaschine, weil man seinen Kaffe im Coffe-Shop schlürft und auch keinen Herd und keinen Kühlschrank weil man essen geht oder sich das Essen liefern lässt. Mit dem Gehalt eines Programmierers oder Lokführers währe es auch kein Problem sich dauerhaft in einem Hotel oder einer Pension einzumieten und „minimalistisch“ aus dem Koffer zu leben. Alles nur eine Frage des Geldes. Für unsereins als Mindestlöhner, eine Alleinerziehende oder einen Sozialleistungsempfänger dagegen stellt sich die Frage des Minimalisierens gar nicht erst. Unsereins kann sich unnötigen Konsum nämlich gar nicht leisten.

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  7. Durchaus macht man sich über Minimalismus wohl erst dann Gedanken, wenn schon ein gewisser Überfluss besteht.

    Der Minimalismus wird momentan aber auch nicht besonders vorteilhaft dargestellt.

    Eigentlich bedeutet Minimalismus aber nichts Anderes, als dass man nur das besitzt, was einem glücklich macht oder einen Nutzen bringt. Das mögen für einige Leute 100 Dinge sein, für Andere aber viel mehr. Wenn einem also eine Tassensammlung so viel Freude bereitet, sollte man sie auf jeden Fall behalten. Genau das Gleiche bei einer Kaffeemaschine, welche man täglich braucht! Das Ausmisten ist ja auch nur der Anfang & somit auch nur der materielle Teil des Minimalismus. Es geht aber noch um viel mehr & sollte im besten Fall auch ein Weg aus dem Materialismus sein.

    Für mich bedeutet es auch das ich meine Kleider, Bücher usw. secondhand kaufe, nicht weil es in ist, sondern weil es nachhaltig & günstig ist. Es bedeutet für mich auch ein Tasten-Handy zu benutzen, weil ich nicht ständig einen kleinen PC dabei haben will, der mir das Denken abnimmt. Zuhause habe ich dann einen Laptop & das reicht. Dafür habe ich ein kleines Auto, was auch nicht sehr nachhaltig ist, was ich aber brauche, da wir sehr abgelegen auf dem Land wohnen. Ich arbeite als selbstständige Haushaltshilfe & habe nebenbei noch einen Job als Verkäuferin. Ich verdiene nicht viel aber ich kann mir meine Zeit meistens selber einteilen. Durch meinen Lebensstil kann ich aber auch ab und zu mit meinem Freund ins Kino oder auf ein Konzert, Essen gehen & mir gutes Essen kaufen. Das sind Sachen welche mir wichtig sind & die mich glücklich machen.

    Nie habe ich das Gefühl das mir etwas fehlt & ich habe den Stress nicht, immer noch nach einer höheren Stelle zu streben, um mehr Geld zu verdienen, um mir mehr leisten zu können.

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